Die charakteristische Eigenschaft eines Integrals der Bewegung ist seine
Konstanz entlang von Trajektorien im Phasenraum.
Bei einem formalen Integral der Bewegung ist dieses Verhalten im
allgemeinen nicht zu erwarten, wie wir in Abschnitt 1.2.4
besprochen haben. Es ist keineswegs sichergestellt, daß die
Potenzreihenentwicklung für das Integral, die wir als Resultat der
Normalformtransformation erhalten, mit wachsendem Approximationsgrad
konvergiert.
Wenn das formale Integral
unabhängig von
und das System nichtintegrabel ist -- was in der Regel der Fall ist --
dann darf die normalisierende Transformation nicht konvergieren, denn
dies stünde im Widerspruch zur Nichtintegrabilität.
Mit anderen Worten: Das formale Integral stellt den Versuch
dar, ein Integral zu approximieren, das gegebenenfalls gar nicht
existiert.
Trotzdem kann auch ein divergentes formales Integral die Situation im
Phasenraum mit hoher Genauigkeit widerspiegeln [Mo68].
Wir werden diese Tatsache anhand von
ausführlich belegen.
Eine weitere Komplikation ergibt sich dadurch, daß uns im Rahmen dieser
Theorie nur Quasiintegrale zugänglich sind. Wir können die
Transformation auf Normalform nur bis zu einem endlichen Grad
durchführen und erhalten dementsprechend prinzipiell nur eine
Näherung des formalen Integrals.
Dieser Umstand erschwert die Analyse
des formalen Integrals,
denn selbst
wenn man für die Folge von Quasiintegralen
,
Konvergenz nachweisen kann, hat man im allgemeinen keine
Möglichkeit, Aussagen auch für
zu machen. Divergenz
für größere
als
kann also nicht ad hoc
ausgeschlossen werden.
Vor diesem Hintergrund führen wir eine neue Bezeichnungsweise ein, die
für die Untersuchung der Konvergenzeigenschaften von
nützlich
ist: Wir beschränken den Begriff ,,Konvergenz`` auf den uns zugänglichen
Wertebereich von
und nennen ein Quasiintegral
konvergent an der Stelle
, wenn dort
Wir untersuchen jetzt die Qualität des in Abschnitt
4.1.2 hergeleiteten Quasiintegrals
. Vorab erinnern wir daran, daß wir in Kapitel
3 die Nichtintegrabilität des
Brown-Gabrielse-Systems nachgewiesen haben. Weil dieses autonome
Hamilton-System zwei
Freiheitsgrade der Bewegung hat und mit
schon ein erstes
Integral der Bewegung bekannt ist, kann kein zweites, von
unabhängiges Integral existieren. Wenn das nach der DFS-Theorie
berechnete formale Integral unabhängig von der Hamilton-Funktion ist,
dann muß demnach
bei allen Energien
und für alle
divergieren --
im gewöhnlichen Sinn des Begriffes Divergenz.
Im Sinn von Gl. (4.25) ist aber immer noch Konvergenz
des Quasiintegrals möglich. Wir zeigen im folgenden, daß sie bei
bei niedrigen Energien die Regel ist und auch bei höheren Energien
nicht ausgeschlossen werden kann.
Im ersten Schritt der Analyse von
prüfen wir,
inwieweit diese Polynome entlang den Lösungskurven der kanonischen
Gleichungen
(3.6) konstant sind. Das hierfür benutzte
Verfahren wird beispielsweise auch in [DrFi79,St91]
angewandt.
Das Quasiintegral
ist eine Funktion der
Phasenraumkoordinaten
,
,
und
. Indem wir einen Punkt des Phasenraumes
-- der Einfachheit halber betrachten wir nur Punkte
aus der Poincaré-Fläche
-- als Startwert
einer Trajektorie ansehen, diese durch numerische Integration berechnen
und dann
längs der Trajektorie auswerten,
erhalten wir das Quasiintegral als Funktion der Zeit:
In den Abbildungen 4.1 bis 4.6 haben wir jeweils
das Quasiintegral der Brown-Gabrielse-Magnetflasche als Funktion der Zeit
in verschiedenen Approximationen (
) dargestellt; dabei
wurden die Energie
und der Startwert
systematisch variiert.
Offensichtlich hängen die Konvergenzeigenschaften der Quasiintegrale
empfindlich sowohl von der Energie (also dem Systemparameter, dessen
Erhöhung zu sich ausbreitendem Chaos führt), als auch von dem
Startpunkt
der betrachteten
Trajektorie ab. Diese Tatsache steht in enger Analogie zu den
Eigenschaften der Poincaré-Abbildung, die ebenfalls in Abhängigkeit
von
und
reguläre oder chaotische Dynamik zeigt,
wie man den Poincaré-Schnitten in Abschnitt 3.2.2
entnehmen kann.
Die Abbildungen 4.1, 4.2 und 4.3
zeigen, bei jeweils gleicher Energie
, schnelle Konvergenz
des Quasiintegrals, langsame Konvergenz beziehungsweise Divergenz von
. Bei der gleichen Energie ergibt sich
demnach ein ganz unterschiedliches Konvergenzverhalten, je nachdem, wie
weit der Startpunkt der Trajektorie vom Ursprung
der Poincaré-Fläche
entfernt ist.
Dieser Effekt läßt sich leicht aus dem lokalen Charakter des
formalen Integrals erklären. Die Konvergenz ist um so besser, je
näher der betrachtete Punkt am Entwicklungspunkt, dem Ursprung des
Phasenraumes, liegt.
Wir können diese Erklärung
anhand der Abbildungen 4.1
bis 4.3 bestätigen, wenn wir den Verlauf der Kurven
genauer betrachten. Bei der Oszillation
des Quasiintegrals handelt es sich offensichtlich um die Überlagerung
einer hoch- und
einer niederfrequenten Schwingung. Der Vergleich mit den Daten der
numerisch integrierten Trajektorie zeigt, daß die höherfrequente
Oszillation in
-Richtung stattfindet, während der niederfrequente
Anteil die Bewegung in
-Richtung widerspiegelt
-- im Einklang mit den Überlegungen in Abschnitt
3.2.1.
Weil der zugängliche Teil des Phasenraumes entlang der
-Achse
nicht beschränkt ist, kann die
-Komponente im Verlauf der Bewegung
vergleichsweise groß werden, was dann wegen des größeren Abstandes zum
Ursprung zur schlechteren Konvergenz von
führt.
Für die Abbildungen 4.1 bis 4.3 haben wir als
Anfangsbedingungen jeweils
und von Bild zu Bild wachsende
-Werte vorgegeben; deswegen werden die im Lauf der Trajektorien
erreichten maximalen
-Werte von Bild zu Bild größer und die
Quasiintegrale somit divergenter.
Abbildung 4.4, bei der höheren Energie
, zeigt eine
andere typische Eigenschaft divergenter formaler Integrale. Hier sieht
man den Übergang von anfänglicher Konvergenz (
)
zur Divergenz (
).
Ein Übergang dieser Art ergibt sich für die
Brown-Gabrielse-Magnetflasche bei jedem (anfänglich) konvergenten
Integral
, weil das System nichtintegrabel ist.
Der Grad
, bei dem der Übergang von Konvergenz zur Divergenz
stattfindet (
für das Beispiel in Abbildung 4.4),
charakterisiert den Startpunkt
der entsprechenden
Trajektorie. Wir werden in Abschnitt 4.3.2 hierauf
zurückkommen.
Anhand von Abbildung 4.5 wird deutlich, daß die
Divergenz des Quasiintegrals nicht immer langsam eintreten muß, sondern
im Gegenteil auch rasant verlaufen kann. Dieses stark divergente, in den
vorherigen Abbildungen so nicht zutage tretende Verhalten
wird verständlich, wenn man auch hier mit der entsprechenden
Poincaré-Abbildung
vergleicht: Der Startwert
liegt
inmitten eines stochastischen Gebietes, das fast die gesamte
Poincaré-Fläche ausfüllt;
liegt fern von
noch erhalten gebliebenen größeren Inselketten.
--
Andererseits gilt, daß auch bei dieser großen Energie immer noch
prominente Inseln fast-regulären Verhaltens erhalten geblieben sind.
Insbesondere ist hier das Inselpaar zu erwähnen, das auf der
-Achse
bei
zu finden ist. Wählt man den Startwert
aus diesem Gebiet, dann ergibt sich lediglich eine relativ moderate
Divergenz von
,
so wie sie in Abbildung 4.6 dargestellt ist.
Schwach divergente oder sogar konvergente Quasiintegrale entsprechen also regulären Gebieten der Poincaré-Fläche, während stärker divergente Quasiintegrale stochastischen Regionen korrespondieren, in denen weniger invariante Tori erhalten geblieben sind.
Mit diesen Beobachtungen haben wir nachgewiesen, daß das berechnete
Quasiintegral zumindest für kleine Energien bemerkenswert gut
konstant sein kann und dann gute Voraussagen der zeitlichen Entwicklung
des Systems erlaubt -- denn (Fast-) Konstanz von
heißt ja
gerade (Fast-)
Integrabilität. Anderenfalls, bei divergentem Quasiintegral, läßt
die ,,Geschwindigkeit`` der Divergenz trotzdem noch Schlüsse auf den
Grad der Chaotizität des betreffenden Gebietes im Phasenraum zu.
Dies ist der Gegenstand des folgenden Abschnitts 4.3.
Eine Analyse des Quasiintegrals nach dem hier beschriebenen Verfahren ist
notwendigerweise eine lokale Analyse, denn man nimmt jeweils nur
Bezug auf einen einzigen Startwert
.
In Abschnitt
4.3 wird beschrieben,
wie man im Zuge einer globalen Analyse die gesamte
Poincaré-Fläche untersuchen kann.