next up previous contents
Nächste Seite: Normalform und Quasiintegral der Aufwärts: Poincaré-Schnitte Vorherige Seite: Definition der Poincaré-Abbildung   Inhalt


Numerischer Nachweis der Nichtintegrabilität

Die in Abschnitt 3.1.2 besprochenen Symmetrieeigenschaften der Brown-Gabrielse-Magnetflasche ermöglichen es, die Iteration der Poincaré-Abbildung und die graphische Darstellung der Resultate sehr effektiv durchzuführen.

Zunächst definieren wir zur Vereinfachung der Notation

\begin{displaymath}
\quad {\mbox{\protect\boldmath$s$}} := {z \choose p_z} \quad.
\end{displaymath} (3.23)

${\mbox{\protect\boldmath$s$}}$ beschreibt in eindeutiger Weise einen Punkt in der Poincaré-Fläche. Wir wählen einen Startwert ${\mbox{\protect\boldmath$s$}}_0\in\Sigma_E$ und berechnen einen Orbit $\left\{{\mbox{\protect\boldmath$s$}}_i\in\Sigma_E; i\geq 0\right\}$ durch Iteration von $P$:
\begin{displaymath}
{\mbox{\protect\boldmath$s$}}_i = {z_i \choose p_{z,i}} := P^i({\mbox{\protect\boldmath$s$}}) \;, \quad i\geq 0 \;.
\end{displaymath} (3.24)

Der Poincaré-Schnitt -- auch: Poincaré-Plot -- entsteht aus der Darstellung der Punkte ${\mbox{\protect\boldmath$s$}}_i$ mehrerer solcher Orbits in der Poincaré-Fläche.

Indem wir die in Abschnitt 3.1.2 diskutierten Symmetrien ausnutzen, können wir ohne großen Aufwand erheblich mehr Punkte in den Poincaré-Plot eintragen als lediglich die ${\mbox{\protect\boldmath$s$}}_i$: Zunächst entnehmen wir aus (3.26c), daß wir die Bedingung $p_\rho>0$ bei der Erstellung des Poincaré-Plots gar nicht anwenden müssen. Denn (3.26c) besagt, daß aus der Existenz des Orbits (3.34) auch die Existenz eines anderen Orbits in $\Sigma_E$ folgt, der die gleichen Koordinaten $z$ und $p_z$ hat, sich aber in $p_\rho$ um ein Vorzeichen von (3.34) unterscheidet. Damit können wir jeden Durchstoßpunkt der Trajektorie $\Phi_t({\mbox{\protect\boldmath$s$}}_0))$ durch die Poincaré-Fläche im Poincaré-Plot markieren.

Aus (3.26b) schließen wir, daß auch der am Ursprung von $\Sigma_E$ punktgespiegelte Orbit ein anderer gültiger Orbit von $P$ ist. An (3.24b,3.24c) sehen wir schließlich, daß wir weitere gültige Orbits in $\Sigma_E$ erhalten, indem wir die Punkte von (3.34) an der $z$- und der $p_z$-Achse spiegeln. Denn die Verfolgung des Flusses in negativer Zeitrichtung, die in (3.24) durch den Parameter $(-t)$ angedeutet wird, entspricht der Iteration der Inversen $P^{-1}$ der Poincaré-Abbildung. Die Existenz dieser Inversen ist ganz allgemein dadurch sichergestellt, daß man den Fluß eines Differentialgleichungssystems immer sowohl in positiver als auch in negativer Zeitrichtung verfolgen kann.

Wir haben Poincaré-Schnitte für verschiedene Energien unterhalb der Sattelpunktsenergie 16/27 durchgeführt. Die Ergebnisse dieser numerischen Untersuchungen sind in den Abbildungen 3.7 bis 3.14 dargestellt; dabei haben wir die oben angesprochenen Symmetrien des Systems ausgenutzt. Insgesamt ergibt sich beim Erhöhen des Systemparameters Energie ein typisches KAM-Szenario.

\begin{figure}
% latex2html id marker 101533
\par\vspace*{0.2cm}
\hspace*{-0.7c...
...Poincar\'e-Fl\uml {a}che ist mit durchgezogenen Linien
markiert.
}\end{figure}

\begin{figure}
% latex2html id marker 101550
\par\vspace*{0.2cm}
\hspace*{-0.7c...
...Poincar\'e-Fl\uml {a}che ist mit durchgezogenen Linien
markiert.
}\end{figure}

\begin{figure}
% latex2html id marker 101567
\par\vspace*{0.2cm}
\hspace*{-0.7c...
...Poincar\'e-Fl\uml {a}che ist mit durchgezogenen Linien
markiert.
}\end{figure}

\begin{figure}
% latex2html id marker 101584
\par\vspace*{0.2cm}
\hspace*{-0.7c...
...Poincar\'e-Fl\uml {a}che ist mit durchgezogenen Linien
markiert.
}\end{figure}

\begin{figure}
% latex2html id marker 101601
\par\vspace*{0.2cm}
\hspace*{-0.7c...
...Poincar\'e-Fl\uml {a}che ist mit durchgezogenen Linien
markiert.
}\end{figure}

\begin{figure}
% latex2html id marker 101618
\par\vspace*{0.2cm}
\hspace*{-0.7c...
...Poincar\'e-Fl\uml {a}che ist mit durchgezogenen Linien
markiert.
}\end{figure}

\begin{figure}
% latex2html id marker 101635
\par\vspace*{0.2cm}
\hspace*{-0.7c...
...Poincar\'e-Fl\uml {a}che ist mit durchgezogenen Linien
markiert.
}\end{figure}

\begin{figure}
% latex2html id marker 101652
\par\vspace*{0.2cm}
\hspace*{-0.7c...
...Poincar\'e-Fl\uml {a}che ist mit durchgezogenen Linien
markiert.
}\end{figure}

Die Kolmogorov-Arnold-Moser-Theorie -- kurz: KAM-Theorie3.2-- macht Aussagen darüber, welche Tori eines integrablen Hamilton-Systems unter einer kleinen Störung erhalten bleiben, wobei Deformationen der erhaltenen Tori möglich sind. Zunächst stellen wir fest, daß bei einem vierdimensionalen integrablen Hamilton-System die gebundenen Trajektorien auf zweidimensionalen Tori im Phasenraum verlaufen. Im Poincaré-Schnitt zeigen sich diese Tori als invariante Linien -- man vergleiche hierzu die konzentrischen geschlossenen Kurven in Abbildung 3.7 3.3. Die Dynamik auf jedem dieser Tori wird durch zwei Frequenzen charakterisiert. Das System erfüllt die KAM-Bedingung, wenn das Verhältnis der beiden Frequenzen, die Windungszahl, ,,hinreichend irrational`` ist. Wir wollen diese Bedingung hier nicht genauer angeben, weisen aber darauf hin, daß die KAM-Bedingung bei zunehmender Störung im allgemeinen strenger wird. Wenn die KAM-Bedingung und einige weitere ,,technische`` Bedingungen erfüllt sind, dann besagt das KAM-Theorem, daß der entsprechende Torus trotz der Störung des Systems erhalten bleibt.

Im Fall einer rationalen Windungszahl $r/s$ können wir angeben, was mit der entsprechenden invarianten Linie geschieht, deren Persistenz ja gerade nicht durch das KAM-Theorem sichergestellt wird. Hier gilt das Theorem von Poincaré und Birkhoff: Unter einer Störung bricht der ,,rationale Torus`` auf und es entstehen $ks$ elliptische und $ks$ hyperbolische $s$-periodische Punkte der Poincaré-Abbildung. Dabei ist $k$ eine natürliche Zahl; meistens gilt $k=1$ [He83]. Die $2ks$ neu entstandenen periodischen Punkte befinden sich dort in der Poincaré-Fläche, wo vorher die noch nicht aufgebrochene invariante Linie lag. Zwischen jeweils zwei elliptischen Punkten liegt ein hyperbolischer Punkt. Eine Poincaré-Birkhoff-Kette -- auch: ,,Inselkette`` -- ist entstanden.

Jeder elliptische periodische Punkt einer Poincaré-Birkhoff-Kette ist seinerseits wieder von invarianten Linien zweiter Ordnung umgeben. Diese Linien unterliegen ebenfalls dem KAM- und dem Poincaré-Birkhoff-Theorem, brechen bei weiter vergrößerter Störung auf und bilden Inselketten zweiter Ordnung. Durch Fortsetzung dieses Szenarios ergibt sich eine sehr komplizierte ineinander geschachtelte Struktur aus invarianten Linien, elliptischen und hyperbolischen periodischen Punkten. Wegen der auf komplexe Weise ineinander verwobenenen stabilen und instabilen Mannigfaltigkeiten3.4der hyperbolischen periodischen Punkte ist die Dynamik in der Umgebung dieser Punkte hochgradig kompliziert und hängt sensibel von den Anfangsbedingungen des betrachteten Orbits ab. Deswegen werden diese Gebiete als ,,stochastische Gebiete`` bezeichnet. Sie sind für die chaotische Komponente der Bewegung verantwortlich und zeigen sich im Poincaré-Plot als Bereiche mit scheinbar regellos verteilten Punkten. Offensichtlich existieren in den stochastischen Gebieten nur noch sehr wenige oder sogar gar keine invarianten Linien. Demnach verläuft die entsprechende Dynamik im Phasenraum typischerweise nicht auf 2-Tori, und das System ist nicht integrabel.

Das oben beschriebene KAM-Szenario läßt sich eindeutig in unseren Abbildungen 3.7 bis 3.14 wiederfinden. Trotz größer werdender Störung bleiben invariante Linien erhalten (man spricht von ,,KAM-Linien``), andererseits nimmt deren Anzahl mit wachsendem $E$ ab, während die KAM-Bedingung (vermutlich) strenger wird. Man erkennt auch die Entstehung von Poincaré-Birkhoff-Ketten erster und zweiter Ordnung. Die Inselketten dritter und höherer Ordnung sind in der Regel bereits so klein, daß man sie in den gezeigten Abbildungen nicht mehr erkennen kann. Wir haben somit anhand der Poincaré-Plots einen numerischen Nachweis für die Existenz stochastischer Gebiete und damit für die Nichtintegrabilität des Systems erbracht.

Es ist an dieser Stelle wichtig festzuhalten, daß wir für das Brown-Gabrielse-System zwar einerseits ein typisches KAM-Szenario finden, andererseits aber weder eine Zerlegung in einen integrablen und einen Störanteil der Hamilton-Funktion angeben, noch die KAM-Bedingung überprüfen können. Unsere Ergebnisse werden also nicht durch das KAM-Theorem erklärt! Es ist aber von Robinson [Ro70], Zehnder [Ze73] und Newhouse [Ne77] gezeigt worden, daß das oben beschriebene KAM-Szenario ganz allgemein eine richtige Beschreibung der Situation in der Nähe eines elliptischen Fixpunktes ist, auch wenn die Bedingungen des KAM-Theorems nicht erfüllt sind. In jedem nichtintegrablen System sind die elliptischen Fixpunkte von invarianten Linien umgeben, auf denen die Bewegung quasiperiodisch, also regulär ist. Darüber hinaus existieren ebenfalls immer Poincaré-Birkhoff-Ketten aus elliptischen und hyperbolischen periodischen Punkten, die die Fixpunkte umschließen. Damit ist auch im nichtintegrablen allgemeinen Fall sichergestellt, daß es stochastische Gebiete und die das KAM-Szenario kennzeichnende Koexistenz von regulärer und chaotischer Dynamik gibt.

Wir bemerken an dieser Stelle noch, daß der Ursprung ${\mbox{\protect\boldmath$s$}}=(0,0)^T$ der Poincaré-Fläche für alle $E$ ein Fixpunkt der Poincaré-Abbildung ist. Denn startet man einen Orbit mit der Anfangsbedingung ${\mbox{\protect\boldmath$z$}}(t=0)=\left( 0,0,\sqrt{2E},0 \right)^T$, dann erhält man aus Gl. (3.6) $z(t)=p_z(t)=0$ für alle Zeiten. Der Orbit verläßt demnach die $\rho $-Achse nie, so daß für alle seine Schnittpunkte mit der $z$-Achse ${\mbox{\protect\boldmath$s$}}=(0,0)^T$ gilt. Besondere Beachtung verdient die Entwicklung des Stabilitätstypus dieses Fixpunktes: Bei niedrigen Energien handelt es sich natürlich um einen elliptischen Fixpunkt. Bei einer knapp unterhalb von $E=0.4$ liegenden Energie verwandelt er sich in einen instabilen Fixpunkt, um dann bei einem Energiewert zwischen $E=0.5$ und $E=0.55$ wieder stabil zu werden. Man vergleiche hierzu die Abbildungen 3.11, 3.12 und 3.13.

Nachdem wir uns in diesem Kapitel einen qualitativen Überblick über die Dynamik in der Brown-Gabrielse-Magnetflasche verschafft haben, gilt es nun, den in Kapitel 1 entwickelten Formalismus der Normalformentheorie anzuwenden. Wir werden im folgenden Kapitel sehen, daß es in der Tat möglich ist, mit seiner Hilfe weitergehende Informationen über unser System zu erhalten.



Fußnoten

... KAM-Theorie3.2
Ausführliche Darstellungen dieser wichtigen Theorie findet man beispielsweise in [Sc89,LiLi92,GuHo83,Ar89].
...bg-p001E 3.3
Das in Abbildung 3.7 dargestellte System, die Brown-Gabrielse-Magnetflasche bei der Energie $E=0.01$, ist mit Sicherheit nicht mehr integrabel. Wie weiter unten erklärt wird, sind aber wegen des noch geringen Wertes des Störparameters $E$ erst vergleichsweise wenige invariante Tori aufgebrochen, und die schon entstandenen Inselketten sind noch sehr schmal. Deshalb unterscheidet sich der in dieser Abbildung dargestellte Poincaré-Plot nicht wesentlich von dem eines wirklich integrablen Systems.
... Mannigfaltigkeiten3.4
Die Schnittpunkte der stabilen und der instabilen Mannigfaltigkeit eines hyperbolischen periodischen Punktes werden homokline Punkte genannt; Schnittpunkte von stabilen und instabilen Mannigfaltigkeiten, die zu unterschiedlichen periodischen Punkten gehören, heißen heterokline Punkte. Die Dynamik in der Umgebung dieser Punkte ist ein Paradigma für die chaotische Dynamik eines nichtintegrablen Hamilton-Systems.

next up previous contents
Nächste Seite: Normalform und Quasiintegral der Aufwärts: Poincaré-Schnitte Vorherige Seite: Definition der Poincaré-Abbildung   Inhalt
Martin_Engel 2000-05-25