Wir kommen nun zur grundlegenden Idee der Normalformentheorie für Hamilton-Systeme. Das Ziel ist es, die Hamilton-Funktion dahingehend zu vereinfachen, daß man ein zweites Integral der Bewegung angeben kann.1.7Insbesondere für Systeme mit zwei Freiheitsgraden der Bewegung () ist klar, daß das Auffinden eines zweiten Integrals eine wesentliche Vereinfachung darstellt, denn damit wäre das Problem bereits vollständig gelöst: Das System besäße die größtmögliche Anzahl voneinander unabhängiger Integrale und das Liouville-Arnold-Theorem wäre anwendbar, falls die Bewegung gebunden ist. Zudem könnten wir den 2-Torus, auf dem alle Trajektorien verlaufen, durch die beiden bekannten Integrale vollständig charakterisieren und hätten somit ein vollständige geometrische Beschreibung des Phasenflusses. Im Rahmen der Gustavsonschen Normalformentheorie [Gu66] versucht man, die Hamilton-Funktion so zu transformieren, daß der quadratische Anteil der transformierten Hamilton-Funktion zu einem Integral der Bewegung wird.
Wir stellen Gustavsons Verfahren hier nicht in seiner ursprünglichen Formulierung dar, sondern bedienen uns der Lie-Transformationstheorie. Stegemerten [St91] demonstriert, daß man auf diese Weise die gleichen Ergebnisse erhält wie bei Verwendung von Gustavsons Formulierung. Der entscheidende Vorteil unserer Vorgehensweise liegt darin, daß alle auftretenden Ausdrücke erheblich einfacher und übersichtlicher notiert werden können. Zudem werden wir so auf natürliche Weise zu der in Abschnitt 1.2.3 dargestellten Verallgemeinerung geführt.
Man sagt, daß
in Gustavson-Normalform bis zum Grad
ist, wenn gilt:
Im Rahmen der Gustavsonschen Theorie werden also nur solche Systeme behandelt, die in niedrigster Ordnung (1.61) durch harmonische Oszillatoren mit den Frequenzen beschrieben werden können. Die Anteile der Hamilton-Funktion mit größerem Grad als 2, , beschreiben die Anharmonizitäten und anharmonischen Kopplungen dieser Oszillatoren, die im allgemeinen zu einer beliebig komplizierten Dynamik führen. Der Grund für die einschränkende Forderung nach diesem -Typ wird im folgenden Abschnitt 1.2.3 diskutiert.
Es liegt auf der Hand, daß diese Normalformdefinition im Hinblick auf die
gewünschte Vereinfachung des Systems sinnvoll ist, denn offensichtlich
ist der quadratische Anteil der Hamilton-Funktion ein Integral der
Bewegung, wenn
in Gustavson-Normalform ist:
(1.47) |
Wenn eine beliebige Hamilton-Funktion vom Typ (1.61) gegeben ist, dann ist selbstverständlich noch kein Integral der Bewegung. Vielmehr müssen wir zunächst auf Normalform transformieren und erst nach dieser Transformation, in den entsprechenden neuen Koordinaten , ist konstant. Transformiert man dann diese Konstante der Bewegung zurück auf die ursprünglichen Koordinaten , so erhält man das zweite Integral der Bewegung als eine Funktion von , die im allgemeinen nicht nur aus quadratischen Termen besteht.
Um eine gegebene Hamilton-Funktion in eine neue Hamilton-Funktion
zu transformieren, die in Gustavson-Normalform ist,
bedienen wir uns einer (unendlichen) Folge von Lie-Transformationen
,
die jeweils einem
Grad -Polynom mit assoziiert sind:
Die Hamilton-Funktion sei bis zum Grad in
Gustavson-Normalform. Die Transformation (1.64) ergibt wegen
Gl. (1.65a) eine neue Hamilton-Funktion
, die ebenfalls in Normalform bis
mindestens zum Grad ist. Unter Berücksichtigung von Gl. (1.65b) können wir durch eine geeignete Wahl von
außerdem erreichen, daß sogar in Normalform bis zum Grad ist.
Mit
erhalten
wir aus Gl. (1.65b) die Gleichung
zu lösen ist. Analog zur Situation in Abschnitt 1.1
sind und gegeben; und sind gesucht.
ist der Kern des Operators :
(1.47) |
Ebenso wie in der Normalformentheorie für Vektorfelder haben wir also
eine homologische Gleichung (1.66a)
zu lösen. Aus den bekannten und sind die Grad -Polynome
und zu bestimmen. Die Lösung gelingt mit Hilfe der Zerlegung
von in die direkte Summe des Kernes und des Bildes von :
(1.50) |
Wir weisen jetzt die Gültigkeit der Zerlegung
(1.68) nach
und zeigen im Verlauf des Beweises auch, wie ein Urbild
von unter gefunden werden kann.
Für gilt
(1.53) |
Die letzte Gleichung ist eine Eigenwertgleichung mit dem Eigenvektor
zum Eigenwert
.
Demnach können wir den Kern und das Bild von
angeben
als die lineare Hülle derjenigen
, für die der
Eigenwert null bzw. von null verschieden ist:
(1.55) |
Gl. (1.76) zeigt auch, wie man die Zerlegung von
gemäß Gl. (1.69) findet und wie das für Gl. (1.71b) benötigte Urbild von bestimmt werden
kann. Dazu
muß zunächst auf die Variablen
transformiert werden:
(1.56) |
Insgesamt haben wir den folgenden Satz bewiesen:
Dieser Satz wurde schon von Gustavson in [Gu66] angegeben. Allerdings ist Gustavsons Darstellung erheblich schwerfälliger, weil sie nicht auf der Theorie der Lie-Transformationen beruht, sondern für die kanonischen Transformationen erzeugende Funktionen vom -Typ (vgl. [Go80]) verwendet. In der Formulierung, die in der vorliegenden Arbeit benutzt wird, findet sich Satz 1.2 beispielsweise auch in [St91].